Salesianer Don Boscos

P. Simon Härting

Nicht einmal im Traum hätte ich mir ausgemalt, dass mich meine Lebensgeschichte einmal von meiner oberbayrischen Heimat am Lech in meine neue Heimat am Bosporus verschlagen würde. Aber selbst die Pharisäer im neuen Testament wussten, dass Jesus „nicht die Person anschaut“, sondern „den Weg zu Gott“ lehren will (Mk 12,14). Von diesem Weg will ich ein Stück erzählen.

Eine Vorbemerkung will ich dennoch machen und diese erscheint mir für Suchende nach dem „Weg zu Gott“ doch sehr wichtig zu sein: Wer sich mit seiner Berufung auseinandersetzt und besonders, wer sich den Beginn seiner Berufungsgeschichte – so wie ich in diesem kleinen Text – aus etwas Entfernung anschaut, der wird ganz schnell die Aussage Karl Rahners unterschreiben können, dass Berufung auf keinem Fall „schlechterdings jenseits der Erfahrung eines gewöhnlichen Christen lieg(t)“, sondern, dass sie eine Erfahrung ist, „die jeder Christ, jeder Mensch manchen und anrufen kann, die er aber leicht übersieht und verdrängt.“ (Vgl. Rahner, Karl: Erfahrung des Heiligen Geistes in: Schriften zur Theologie XIII, S. 231). Wer sich also nur auf den Weg zu Gott machen will, weil er besondere Zeichen sieht oder sich als eine „auserwählte“ Person erfährt, der kann sich wirklich glücklich schätzen. Die Erfahrung des Lebens – und auch meine ganz persönliche eigene Erfahrung – lehrt aber das Normale, den Weg mit Kanten und Ecken, mit Kurven und mit Schleifen, die man drehen muss, kurz: Berufung als ein Weg zu Gott, der sich Stück für Stück für einen öffnet. Wer aber – dies scheint mir auch wichtig – diese Erfahrung nicht sucht, der blendet eine wichtige Dimension seines Lebens aus. Jeder ist von Gott auf den Weg berufen, jeder Mensch kann seine ganz persönliche Berufung spüren und finden.

Nun schauen wir aber in das Konkrete hinein! Als ich das Abitur abgeschlossen hatte und meinen Zivildienst in einem Kloster ganz in der Nähe meiner Heimat begann, war ich fest davon überzeugt, die Naturwissenschaften erforschen zu müssen. Die Chemie und die Pharmazie hatten es mir angetan und ich bewarb mich an der Universität. Als die Zusage für den Studienplatz kam, wurde ich unsicher. Ich war auch immer an religiösen Themen interessiert, war in der Pfarrei engagiert und in meiner Familie war die Erfahrung von kirchlicher Gemeinschaft präsent. Wohin sollte ich mich also wenden? Theologie war nun auch in die engere Wahl gekommen. Klarheit brachte die Begegnung mit einem Pater der Salesianer Don Boscos auf einer Pilgerfahrt nach Rom. „Komm doch an unsere Uni! Da kannst du Theologie mit Pädagogik verbinden.“ Diese einfache Einladung machte Effekt. Ich ließ den Studienplatz an der Münchner Universität verfallen und bewarb mich für das Doppelstudium der Theologie und Sozialpädagogik an der Philosophisch-Theologischen-Hochschule in Benediktbeuern. Vom Lech an die Loisach, so möchte ich diesen Wechsel nennen.

Es folgten Jahre des Studiums und des Wachstums. Ich durfte in theologische Themen hineinfinden, in der Philosophie Grundlagen legen, praktisch mich in der Pädagogik üben und besonders auch den kritischen Geist schärfen, den unsere Professor*innen täglich herausforderten. Immer wieder wurde mir klar, dass Jesus „nicht die Person anschaut“, sondern „den Weg zu Gott“ lehren will (Mk 12,14). Oft wusste ich nicht, in welche Richtung es für mich gehen soll, aber die Freude über das Studium und die Gewissheit, an einem für mich richtigen Platz zu sein, ließ mich immer weitergehen. Es ist dies doch ein spannendes Detail des eigenen Berufungsweges: Man spürt es, wenn der Weg stimmt! 

Ich durfte währen des Studiums auch ein Jahr im Ausland verbringen und weitere praktische Erfahrung in der Pädagogik sammeln. Und irgendwie stellte sich nun doch eine merkliche Unzufriedenheit ein. Es fehlte etwas bei den Bausteinen meines Lebensweges. In der geistlichen Begleitung wurde es mir klar: Die Spiritualität! So machte ich mich auf die Suche nach einer richtigen Form, in der mein Weg zu Gott inşallah („hoffentlich, wenn Gott will“) gelingen kann. Ich klopfte am Priesterseminar an, es wurde mir schnell und freudig aufgemacht. Aber ganz schnell merkte ich, dass mein Weg woanders hinführt. Ich klopfte wieder an, diesmal bei den Benediktinern. Dreimal klopfte ich, wie es Benedikt vorsieht. Aber es wurde mir nicht aufgemacht. „Kommt einer neu und will das klösterliche Leben beginnen, werde ihm der Eintritt nicht leicht gewährt, sondern man richte sich nach dem Wort des Apostels: ‚Prüft die Geister, ob sie aus Gott sind‘ (1Joh 4,1).“ (Regel des Heiligen Benedikt 58,1f.) Ich bin dem Geist Gottes für diese deutlichen Gesten dankbar, sie führten mich meinen Weg weiter. Schließlich brachten vier Wochen der Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Salesianern Don Boscos, Freiwilligen und Mitarbeiter*innen eine klare Erkenntnis: Der Weg Don Boscos war nicht nur meine Studienheimat, sondern ist mir auch zur spirituellen Heimat geworden. Ich konnte nicht mehr von der Idee lassen, dass mein Weg zu Gott der Weg Giovanni Boscos war. Nach Vornoviziat und Noviziat legte ich am Geburtsort unseres Ordensvaters am „Colle Don Bosco“ bei Turin die Profess ab. Vom Lech sozusagen an den Fluss Po.

Als frisch gebackener Diplom-Theologe und staatlich anerkannter Sozialpädagoge begann dann für mich gleich die salesianisch-pädagogische Arbeit mit einer neuen Erfahrung: Jugendhilfe (oder wie ich lieber sage: „unsere Jungs“). Den Weg Gottes zu suchen ist Aufgabe jedes Menschen und leicht verdrängt er diesen Weg oder übersieht ihn. Aber viel schwieriger ist es, diesem Weg Gottes zu folgen, wenn man seine Berufung auch lebt. Meine persönliche Erfahrung ist, dass die Versuchung, den eigenen Weg zu Gott nicht weiterzugehen, ihn zu verdrängen oder zu übersehen, jeden Tag wartet. Die Grundentscheidung der Berufung ist jeden Tag neu zu aktualisieren, niemand kann mit seiner Entscheidung im Augenblick seine ganze Zukunft prägen (Vgl. Rahner, Karl: Liebe als Grundakt des Menschen in: Rechenschaft des Glaubens, S. 55). Besonders stark merkt man diese Fragestellung, wenn einer in einem Umfeld arbeitet, dass zwar auf der einen Seite stark säkular ist, auf der anderen Seite Entscheidungen und vor allem Lebensentscheidungen immer und immer wieder verstehen will. Ich bin „unseren Jungs“ der Jugendhilfe sehr dankbar für diese Erfahrung. Die Welt der Jugendhilfe war für mich nicht nur eine menschlich sehr reiche Zeit, sondern sie brachte mir Bodenhaftung in der Berufung, „inşallah“. Und so gestärkt wollte ich diesen Weg mit Don Bosco als Leitmotiv weiter entdecken.

Auf Ewige Profess und Diakonenweihe folgte die Priesterweihe. Die Grundentscheidung der Berufung ist jeden Tag neu zu entdecken. Unsere salesianische Ordensregel greift dies auf, wenn sie davon spricht, dass die uns anvertraute Welt an jedem Tag mit Optimismus und Freude aus diesem Verständnis heraus kreativ zu gestalten ist. In dieser Haltung erklärte ich mich dann auch bereit, dass ich für meinen Orden an den Bosporus wechseln und unsere Niederlassung in Istanbul verstärken werde. Der bisher letzte große Schritt auf meinem „Weg zu Gott“: Vom Lech an den Bosporus.

Wenn ich nun am Ufer dieser Millionen-Metropole zwischen Europa und Asien sitze, dann fällt mir das bekannte Gedicht über die „Stadt am Fluss“ der schweizer Mystikerin Silja Walter ein. Ich habe mir erlaubt, es für mich folgendermaßen umzuschreiben:

 

Jemand muss zu Hause sein,

Herr, wenn Du kommst.

 

Jemand muss Dich erwarten,

unten am großen Fluss in der Stadt.

 

Jemand muss Ausschau halten.

Wer weiß denn, wann du kommst?

 

Jemand muss bereit sein zu staunen,

Herr, denn Du kommst.

 

Der Weg, den Gott mit mir geht, hat mich nach Istanbul geführt. Er wird mich auch weiter führen, inşallah, dessen bin ich mir sicher. Was aber bleibt, das erfahre ich in dieser Stadt mit christlicher Minderheit besonders: Ich erlebe meine Berufung Tag und Nacht als Ausschau halten. Ich möchte der sein, der zu Hause ist. Ich möchte der sein, der am Fluss wartet. Ich möchte Ausschau halten nach Gott. Denn er schaut nicht nach der Person, sondern er ruft mich auf den Weg mit ihm.

 

Bild (C) Deutsche Provinz der Salesianer Don Boscos