Prämonstratenser-Chorherrenstift Kloster Roggenburg (A)
P. Ulrich Christian Keller
Die jugendliche Zuhörerschaft lauschte wie hypnotisiert der Geschichte des Studenten, der nach einer kurzen, aber prägnanten Pause meinte: „Wer meint, bei mir sei es so abgelaufen, den muss ich enttäuschen….”
In den allermeisten Fällen wächst eine Berufung langsam. Oft legen die Eltern, die Familie, die Ortspfarrer oder Religionslehrerinnen und –lehrer den ersten Keim, der dann auf mehr oder minder fruchtbaren Boden fallen kann. Mir selbst sind nur wenige Menschen begegnet, die ihrer Berufung von Anfang an sicher waren und die zielstrebig ihren Weg gegangen sind, ohne diesen jemals zu verlassen.
Bei mir war es wohl eine gute Mischung aus Keimling und Chaos.
Meine Eltern würde ich durchaus als religiös bezeichnen. Besonders meiner Mutter war es schon ein Anliegen, meinen Bruder, meine Schwester und mich in die Kirche zu lotsen. Allerdings würde ich meine Familie nicht dem Kreis der regelmäßigen Kirchgänger zuordnen. Das war schon allein deswegen nicht möglich, weil mein Vater ein Hobby pflegte, das ihn gerade am Wochenende auf Trab hielt – und mit ihm seine Familie. Manchmal – so kann ich heute schmunzeln – war es eben für meine Eltern schlicht und ergreifend „praktisch” mal eine Stunde pro Woche keine Kinder im Haus zu haben.
Dank meiner Vorliebe für Musik geriet ich in meiner Gögginger Heimatpfarrei schon mit knapp sechs Jahren in den Kinderchor, begann diverse Blockflöten zu traktieren (und mit ihnen die Ohren derer, die sich das anhören mussten) und schließlich auch auf der Gitarre einen flotten Darm zu zupfen. Meine damalige Chorleiterin, Frau Peszteritz, förderte mich wo es nur ging und mochte mich ganz besonders, weil ich auch nach der Erstkommunion hartnäckig den Dienst als Ministrant scheute. Mir war der Platz auf der Orgelempore lieber, als die Sedilien neben dem guten Pfarrer Spengler.
Wie das halt so ist – die Pubertät ging nicht einfach und spurlos an mir vorüber: Ich bekam Pickel und gehörige Zweifel an dem, was „die Kirche” so alles machte und dachte.
Als mein Großvater starb war ich gerade 15 und hatte immer noch Pickel. Er war in einer Vereinigung aktiv, die in den Augen der katholischen Kirche nicht akzeptabel war. Nach seinem Tod verbot die Bistumsleitung ein katholisches Requiem für ihn zu feiern und untersagte eine kirchliche Bestattung. Das wäre ja zu akzeptieren gewesen – hätte Mutter Kirche nicht zu Lebzeiten meines Opas Unsummen an Kirchensteuern von ihm eingestrichen. Es waren sicher nicht geringe Mengen, denn mein Opa gehörte einer eher gehobenen Steuerklasse an. Ich fand es empörend und furchtbar ungerecht, dass man ihn finanziell gern zur Kasse bat, und ihm dann, sobald er sich nicht mehr wehren konnte, die letzten kirchlichen Ehren verweigerte.
Ich hegte und pflegte meinen inneren Groll über Jahre. Ich war sauer – und nicht wenig! So sauer, dass ich aus der Kirche austrat und beschloss, Mitglied der Church of England zu werden – ein Racheakt der persönlichen Art, so zu sagen.
Wer glaubt, ich sei nach dem Austritt ein glücklicherer Mensch gewesen, der irrt. Ich hatte furchtbare Schuldgefühle und wurde mir erst daheim klar, was dieser Schritt jetzt in letzter Konsequenz bedeuten würde. Was würde mit meiner Musiziererei in der Kirche werden? Adieu meinen Freunden aus der Pfarrjugend? Musste ich den Religionsunterricht verlassen? Schlafen konnte ich in der ersten Zeit ziemlich schlecht und die Tränen meiner Mutter, das Toben meines Vaters und das magere Verständnis meiner Freunde hat mir damals ziemlich zugesetzt.
Mein Pfarrer war es dann, der mich irgendwann zur Seite nahm und mir Gespräche anbot. Er wollte mir die Chance geben, das alles nochmal in Ruhe durchzuüberlegen und vielleicht eine andere Sichtweise zu erhalten. Dafür bin ich ihm heute noch sehr dankbar und werde es auch immer bleiben!
Parallel dazu bot die benediktinische Ordensgemeinschaft von St. Stephan, deren Patres die zweifelhafte Ehre hatten, mich im benachbarten Gymnasium unterrichten zu dürfen, eine Schnupperwoche für Schüler der Oberstufe an. Das interessierte mich brennend! Wann hat man als Schüler schon die Gelegenheit, die „schwarzen Obertanen” privat zu erleben.
Und es blieb nicht nur bei einem Besuch – es folgten mehrere weitere. Meine Mutter war entsetzt! Nicht genug damit, dass ich aus der Kirche ausgetreten war – jetzt wollte ich auch noch ins Kloster gehen! Sie teilte das Schicksal so mancher Mutter und fiel von einer Ohnmacht in die andere.
Was mich gepackt hat, war die Atmosphäre im Kloster: Ruhe, Besinnung, Gemeinschaft, Gebet. Besonders das Gebet habe ich zu schätzen gelernt. Nicht die Psalmen, nicht die gesprochenen Gebete, sondern die Zeiten der Stille. Es hat mich tief berührt, wie sich die Ordensbrüder im gemeinsamen und privaten Gebet so offensichtlich und vertrauensvoll fallen lassen konnten. Sie versanken buchstäblich in eine mir noch unbekannte Geborgenheit hinein, die alles in den Schatten stellte, was ich bisher kannte. Das wollte ich auch können und ich glaube, ich habe dort, im Chorgestühl von St. Stephan, das allererste Mal „richtig” gebetet. Keine frommen Formeln. Keine wohlklingenden Psalmtöne. Einfach in Gottes Gegenwart ruhig werden und seine Präsenz erleben.
Es ist mir klar, dass spätestens hier die psychologisch Interessierten von Autosuggestion und Wunschdenken sprechen werden. Aber für mich war es in diesem Augenblick viel mehr als ein psychisches Phänomen. Für mich persönlich war es der Beginn einer Freundschaft, die mich seither immer begleitet hat. Autosuggestion hat ihre Grenzen – meine Beziehung zu Gott, den ich damals das erste Mal erfahren, fast gespürt habe ist grenzenlos. (Vorsicht: Das war jetzt doch ziemlich fromm…!)
Das Thema Kirche hat mich nicht losgelassen: Mein Pfarrer holte mich zurück in die Gemeinschaft der Kirche, die Benediktiner ließen mich kommen und gehen und Erfahrungen sammeln. Dafür bin ich sehr dankbar und hoffe, dass die von mir erlebte Offenheit auch anderen helfen kann, ihre Geschichte mit Gott zu schreiben.
Warum aber dann gleich vom Saulus zum Paulus?
Bei der Bundeswehr – die ich sehr halbherzig begonnen hatte – erfuhr ich vom Unfalltod eines ehemaligen Mitschülers und Abiturkollegen. Wir hatten noch ein paar Wochen vorher unsere Zeugnisse erhalten und gefeiert – jetzt trafen wir uns alle bei Ulis Beerdigung wieder. Es war schrecklich, das Leid der Familie erleben zu müssen und ich trat den Weg zurück in die Kaserne mit schweren Gedanken an: Was, wenn ich plötzlich zu Tode kommen würde? Was hätte ich aus meinem Leben gemacht?
Als ich am nächsten Tag zur Schießübung musste und auf die berühmten Pappkameraden schießen sollte, war mir das einfach nicht möglich. Ich wusste, dass ich das nicht wollte und konnte. Hätte mich nicht ein Ausbilder überredet die Grundausbildung regulär zu beenden und dann das darauf folgende angenehme Leben im Musikkorps zu genießen – ich wäre vermutlich sofort gegangen und hätte meine Verweigerung geschrieben. So aber mussten noch zwei Monate vergehen, bis ich endlich davon überzeugt war, „hier und jetzt” meinen Dienst an der Waffe zu beenden und in den Zivildienst zu wechseln.
Dieser Schritt war komplizierter als gedacht und ich musste manch bittere Pille schlucken, bis ich endlich meinen Entlassschein in der Hand hatte. Fairerweise muss ich hier meinem Kommandanten und dem Spieß meine Hochachtung zollen. Sie haben mich nicht ein einziges Mal schikaniert oder gegängelt. Eher im Gegenteil. Bundeswehr kann also auch menschlich sein…
Meinen Zivildienst leistete ich dann in einem Krankenhaus, in dem ich für mich ausgesprochen wertvolle und wichtige Erfahrungen sammeln konnte. Ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass hier der Grundstock für mein heutiges Arbeitsfeld in der Notfallseelsorge gelegt wurde. Ohne die vielen Zusprüche und Erzählungen, Ratschläge und Hilfestellungen des Pflegepersonals hätte ich den seelischen Druck, den die Konfrontation mit Leid, Sterben und Tod mit sich bringt wohl nicht aushalten können. Dieser Lebensabschnitt hilft mir heute, offen und unbefangen auf Sterbende und Trauernde gleichermaßen zuzugehen.
Gegen Ende der Zivi-Zeit musste ich mich entscheiden, ob ich meinen gereiften Wunsch, Theologie zu studieren nun im Priesterseminar oder als freier Student umsetzten sollte. Zur kompetenteren Entscheidungsfindung bat ich um einen Termin bei Pater Schiegl im „PWB-Augsburg”. Der sah mich an, schüttelte nach der Schilderung meiner Optionen den Kopf und meinte: „Göö! Du dusd ned frei studier’n! Du gehsd ins Brieschderseminaaar, göö!” Bevor ich protestieren konnte, hatte er schon den damaligen Regens an der Strippe und einen Termin vereinbart.
Es passiert nicht häufig, dass ich sprachlos bin – da war ich es!
Der Regens fand keinen Grund mich zurückzuweisen und so begann ich im Herbst meine Zeit als Alumne des Augsburger Priesterseminars. Keine schlechte Zeit übrigens, denn ich hatte das Privileg in einem Kurs zu sein, in dem viele so genannte Spätberufene waren. Die hatten alle schon Berufserfahrung und wussten, warum sie studieren wollten. An die konnte ich mich halten und von ihnen vieles lernen.
Mittlerweile hatte ich – eher zufällig – das Kloster Roggenburg kennengelernt. Beim Betreten der herrlichen Klosterkirche ging mir im wahrsten Sinn des Wortes das Herz auf. Was für ein Kirchenraum! Sonnendurchflutet, leicht, verspielt und doch klar strukturiert. Dieser Raum strahlte eine unglaubliche Kraft und Freundlichkeit aus.
Als ich dann erfuhr, dass die außergewöhnlich junge und zukunftsträchtige Ordensgemeinschaft in Roggenburg die Pfarrseelsorge als integralen Bestandteil ihrer Gemeinschaft verstand und lebte, dass neben der Actio auch Contemplatio, Communio und Stabilitas tragende Säulen des Lebens sind, da wusste ich, dass ich hierher gehörte und so habe ich es Jahre später auch formuliert: „Hier möchte ich, zusammen mit euch (der Klostergemeinschaft) alt werden.”
1993, nach dem bestandenen Vordiplom in Theologie, trat ich in der Mutterabtei Windberg ein und wechselte nach einem Jahr nach Roggenburg.
Ich lebe immer noch hier. Immer noch gern.
Nein, bereut hab ich den Schritt nie – warum auch?!